Phonographie

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Denn Androschs Werke sind von reiner, grandioser Schönheit. Und starrt man sie lange genug an, dann hört und liest man neu.
Egbert Tholl in der „Süddeutschen Zeitung“ zur Ausstellung „Phonographien“ im Historischen Museum Regensburg 2016

Katalog Peter Androsch Phonographie Historisches Museum Regensburg 2016 [19.8 MB]

Katalog Peter Androsch Phonographisches Panorama Städtische Galerie Nova Gorica  [5 MB]

Phonographien – wie Peter Androsch seine Klang-Schreibungen nennt – entstehen durch Überlagerung mehrerer Schichten, so wie ein Klang durch Interferenz von Schallwellen entsteht. Es entwickelten sich im Laufe der Zeit verschiedene Werkgruppen, die auf unterschiedlichen Ausgangsmaterialien basieren und in unterschiedlichen Verfahren hergestellt werden. Phonographische Portraits Bisher gibt es die Serien „Linzer Köpfe“, „Kärntner Köpfe“ und „Köpfe aus Oberösterreich“ und einzelne Doppel-, Wackel-, Rätsel- und Trugbilder. Historische Phonographien Diese Arbeiten basieren auf überlieferten Handschriften. Musikalische Phonographien Das sind Bilder, die auf musikalischen Manuskripten basieren.

Die Topographie der Utopie: Erste Theorie

Peter Androsch zu seiner phonographischen Welt, 2005

„Es gibt eine Neue Musik jenseits ihres Alterns, wenn sie sich ihrem Auftrag der modernen Gesellschaft an die Neue Musik überläßt: dem unversöhnten Individuum eine freie Stimme zu geben.“

Leo Dorner zu Peter Androsch „Zwölf Inventionen für drei Violoncelli“

Die graphische Abbildung musikalischer Vorgänge bildet den zentralen Teil meiner künstlerischen Arbeit. Die Erstellung einer Partitur, das Komponieren in der Form des „Notenschreibens“ – mit einem Stift auf Papier – , stellt seit Jahrhunderten den Alltag des Komponisten dar.

Immer wieder wurde in Notenblättern, besonders in Partiturblättern, auch ein visueller, graphischer Reiz erkannt, der im 20. Jahrhundert zusätzliche Bedeutung erhielt. Neuartige Kompositionsmethoden brachten neuartige Notierungs-Methoden und damit neue Erscheinungsformen der geschriebenen Musik. Dodekaphonische, serielle, aleatorische, graphische und andere Kompositionsverfahren geben der Musik neue „Bilder“, lassen sie tatsächlich anders ausschauen. Komponisten wie Anestis Logothetis betrachteten ihre Partituren explizit als visuelle Kunstwerke. Die Neubewertung geschriebener Musik gründet sich nicht nur auf einem kulminierenden synästhetischen Streben. Sie begleitet vielmehr einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der Kunstmusik.

Ernst Peter Fischer verweist auf die Umwertung wissenschaftlicher Werte zur gleichen Zeit („Die andere Bildung“, 2003). Mehrdeutigkeit, Unstetigkeit, Unschärfe werden wissenschaftliche Kategorien, ja das Verhältnis des Wissenschaftlers zu seinem Objekt stellt sich völlig neu dar. Die Natur ist nicht mehr allein das Beobachtete, das Untersuchte: “ … dass man sich in letzter Konsequenz nicht mehr vorstellen darf, dass auf der atomaren Bühne Dinge agieren. Vielmehr treten dort Kreationen unserer Phantasie auf, die wir erschaffen und betrachten. … Der Wissenschaftler entwirft die Natur, die er selbst ist. Er ist natura naturata und natura naturans in einem … “ Die Wissenschaft dringt in einen Bereich vor, der bisher der Kunst vorbehalten war: Nicht nur Natur beschreiben, sondern neue Welten erschaffen. Was hat das mit Musik und der Phonographie zu tun? Hier wie dort geht es um die Darstellung des Nicht-Darstellbaren. In beiden Fällen geht es um das Entwerfen (sic!) von etwas nicht Vorstellbarem. Durch die Erschaffung von Beziehungen und Verhältnissen wird der Raum selbst erschaffen, und damit eine neue Welt. Der Wissenschaftler entwirft etwa die Idee eines Elektrons und definiert Beziehungen und Verhältnisse zwischen den Teilchen. Er kommt nicht mehr weiter mit einer „Verkleinerung“ seiner bisherigen Anschauungen ( – respektive „Vergrößerung“, wenn wir an die Astronomie denken). Selbst das Wort „Idee“ führt uns in die Irre, denn es führt sich auf das griechische idein, „sehen“, zurück. (Das wiederum verwandt mit dem lat. videre ist.) „Die Wissenschaft vollzog … eine radikale Umwertung ihrer Werte, und zwar sowohl in theoretischer als auch in praktischer Hinsicht. Ihre Vertreter entdeckten – meist gegen den eigenen Willen -, dass es für sie etwas gibt, das unsagbar bleibt.“, schreibt Ernst Peter Fischer weiter. Es liegt in der Natur der Sache, daß Musik unvorstellbar, daß sie unbegreiflich ist. Ihre Welt ist tatsächlich unfassbar. „Du sollst dir kein Bild machen“ ist für sie Programm. In diesem Sinne nimmt die Musik eine Ausnahmestellung unter den Künsten ein. Sie ist die nobelste, – davon bin ich überzeugt. In der angewandten Musik – in Kirchenmusik, im Barock, in der sogenannten „Klassischen Musik“, im Walzer, der frühen Unterhaltungsmusik, der Volksmusik, der heutigen Popmusik – wird eine Welt entworfen, die der Hörer kennt. Die Beziehungen, die Verhältnisse in ihr leiten sich ab von Formeln und Figuren in Gespräch und Rede, von Bewegungsabläufen im täglichen Leben, von gesellschaftlichen Ritualen, – kurz von der Konvention. Gleichwohl ist schon diese Musik nicht darstellbar. Die Kunstmusik entzieht sich dem Druck des Angewandten. Sie befreit sich vielmehr aus den Zwängen der Konvention. Warum? Weil die Kunstmusik nach dem wahrhaft Menschlichen sucht, die Verfeinerung und Wahrnehmung fordert, um mehr Mensch zu werden. Was läßt uns mehr Mensch werden? Etwas, das uns mehr von uns fühlen, empfinden, verstehen läßt. Etwas, das unsere sinnliche Fähigkeit erhöht, das uns entdecken läßt, was wir (sein) können, das uns unser Potenzial erahnen läßt. Etwas, das keinen Zweck kennt, etwas das uns des Zwangs enthebt. Dafür braucht es neue Beziehungen und Verhältnisse, also Modi und Proportiones, die der Komponist entwirft. Er erschafft eine neue Welt. Eine Klangwelt, einen Nicht-Ort, eine Utopie. Hier gibt es keine Anschauung, keine Vorstellung, sondern Wahr-nehmung (sic!). Die Partitur ist die Sammlung von Gleichungen, die die neue Welt entwirft. Anknüpfend an Ernst Peter Fischer brachte der Paradigmenwechsel dem Komponisten eine neue Rolle: In letzter Konsequenz treten in der neuen Welt Kreationen unserer Phantasie auf, die wir erschaffen und betrachten. … Der Komponist entwirft die Natur, die er selbst ist. Er ist natura naturata und natura naturans in einem …

Somit geht es der Kunstmusik um die Darstellung des Nicht-Darstellbaren. Sie ist meta-physisch und berührt die letzten Dinge, – sie ist eschatologisch. Aus diesen Gründen gibt es auch kein Handwerk, das sich weitergeben ließe. Die Gesetze der neuen Welt sind andere als die der alten. Aus den gleichen Gründen ist diese Welt auch nicht handelbar. Für den Komponisten ist das Notenblatt wohl das einzige, an dem er sich im wahrsten Sinne des Wortes fest-halten kann. Es besitzt im Gegensatz zum flüchtigen Klang Materialität und Kontinuität. Dieser Aspekt spielt in der Entwicklung zur Phonographie eine wichtige Rolle.

Desgleichen die Handschriftlichkeit. Heute erlangen originale handschriftliche Notenblätter wachsende Aufmerksamkeit, durchaus über die Musikwelt hinaus. Sie unterscheiden sich grundlegend von digitalen Verfahren: Sie stellen per se ein zutiefst persönliches Dokument künstlerischer Arbeit dar, repräsentieren Individualität und sind Zeugnisse eines personalen Stils. Die handschriftliche Partitur ist die Königin der Notenblätter. In ihrer Vielgestaltigkeit liegt ihre Schönheit. Sie ist quasi ein Über-Buch, in dem sich der große Plan genauso findet wie das kleinste Detail. Sie ist Spiegel der Klangtheorie, genauso wie technische Anweisung. Sie ist das Meer der Zeit, in dem die Ereignisse schwimmen. Dies alles findet sich in ihr als eine Unzahl von Verhältnissen, also Proportionen, unter welchen ungezählte (goldene) Schnitte verborgen sind. Die Phonographie verdichtet die Partitur zu einer Textur. Sie schichtet alle Blätter übereinander. So wie das Licht als Welle daherkommt und als Teilchen erscheint, ist die Phonographie die Karte einer neuen Welt, eine Utopie, – bestechend durch Rätselhaftigkeit. Vielgestaltige Gegenden entstehen. Einige von Zechyrscher Dichte*, andere leer und öd wie das Afrika alter Landkarten („Hic sunt leones!“), andere von durchsichtiger Fragilität. Die Phonographie ist also Weltbeschreibung und Handlungsanleitung in einem. In ihr wohnt der Bauplan einer neuen Welt und gleichzeitig die Anweisung, dorthin zu gelangen. Ihre visuelle Intensität spiegelt nicht-visuelle Ordnungskriterien, sie ist meta-graphisch, weil die Ordnungskriterien der Entstehung im Außergraphischen liegen, – eben in einer neuen Welt, in den letzten Dingen. Darin gründet sich der ästhetische Reiz: Das Schöne liegt nicht in dem, was wir kennen, vielmehr in dem, was wir nicht kennen. Die Phonographie ist die Ortsbeschreibung eines Nicht-Ortes, die Topographie der Utopie. —

* Othmar Zechyr (* 28. Mai 1938 in Linz; † 13. September 1996 in Linz) war ein österreichischer Maler und Zeichner.

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