Über Androsch

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Eleonore Büning über das Werk von Peter Androsch

„Wer nicht hören will, muss fühlen.“ So sagt es der Volksmund, und dieses Sprichwort ist so alt wie die Welt, die voller Geräusche ist, und das nicht erst seit der Erfindung des Ottomotors. Was der Volksmund sagt, ist meist witzig und manchmal tückisch, wie das wohl mit dem Volk oft der Fall ist. „Nicht hören, aber fühlen“ – das bedeutet ja im Klartext: „Teile, und herrsche“. Dieser Satz differenziert die menschlichen Sinneswahrnehmungen, die doch recht eigentlich untrennbar zusammenhängen und einander beeinflussen und bedingen, und spielt sie gegeneinander aus.

Das Sprichwort stammt aus einer Zeit, da die Prügelstrafe noch ein probates Mittel der Erziehung und ein kleiner Klapps im Kinderzimmer erlaubt war, es wurzelt im Bildungsideal des frühen neunzehnten Jahrhunderts, das immer noch als die goldene, romantische Ära gilt in der Musik: Also im Zeitalter der Hausmusik, im Zeitalter der klavierspielenden höheren Töchter, im Lebenszeitalter von Beethoven, Schubert, Schumann, Mendelssohn, Berlioz, Bellini, Donizetti, Rossini, Chopin, Hummel, Herz, Hünten, Liszt und Wagner. Und aus diesem Zeitalter stammt auch das Plädoyer für eine systematische Gesangsausbildung aller sächsischen und  preußischen Untertanen, wie sie der Leipziger Gelehrte Friedrich Wilhelm Lindner gefordert hat: „Man lehre das Ohr hören, dann horchen, und zuletzt wird das Gehorchen, der Gehorsam, welcher Gott und dem Gewissen gebührt, nicht schwer werden.“ Lindner schrieb dies anno 1811. Er ging offenbar davon aus, dass das Ohr eine Art sozialpädagogisches Disziplinierungsinstrument sei, wie der Rohrstock, beispielsweise auch. Dieses Zitat ist ein schöner Beleg dafür, dass das Sprichwort: „Wer nicht hören kann, muss fühlen“ auch als eine kulturpolitische Waffe dienlich sein mochte, und zwar jenen hierarchieaffinen Parteien, die Robert Schumann zum  Juste Milieu rechnete.

Hundert Jahre später veröffentlichten die Futuristen um Marinetti, darunter der Bruitist Luigi Russolo, ihr futuristisches Manifest, darin das Industriezeitalter begrüsst, verherrlicht und gepriesen wird, somit der Gesang der Maschinen, die Geschwindigkeit als Hexerei, und andere Abscheulichkeiten mehr, die sich dem technischen Fortschritt verdanken, und die das Ohr, das wehrlose, künftig knechten sollten bis zum Hörsturz. Freilich, die Futuristen und Bruitisten befreiten auch das profane Geräusch aus dem Käfig der Nicht-Musik, eine Groß-Tat, die Folgen hatte.  Und wieder rund hundert Jahre später, vor exakt sieben Jahren, kam in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie in Le Figaro und im Standard zeitgleich „Das akustische Manifest“ heraus, wohinter die Kulturhauptstadt Europas steckte, die „Hörstadt Linz“, wie der Linzer Komponist Peter Androsch sie taufte,  als musikalischer Kurator des Kulturhauptstadtprogramms. In diesem Manifest werden alle möglichen Forderungen aufgestellt, die die akustische Umweltverschmutzung, verursacht durch Musikmissbrauch, aber auch durch gedankenlosen Konsum, Dummheit und Verschwendung, reduzieren sollen. Übergreifend leuchtet ein Satz heraus, den Androsch in die Mitte stellte. Er definiert das Zuhören. Er behauptet: „Hören ist leben“. 

„Ohne Hören sind wir nichts. Was wir sind, sind wir durch das Ohr: (nämlich) Personen. Unsere Existenz ist Klang, nicht Licht. Töne, nicht Bilder. Aufgehoben in der ewigen Schwingung des Raumes, durchflutet vom Lebenspuls unserer Selbst, eingebettet in das Kontinuum der Zeit. Gleichgewicht, Orientierung und Gehör vereinen sich zu einer Trinität der Wahrnehmung.“

„Hören ist Leben“, mit diesen drei Worten hat Peter Androsch damals, 2009, das alte  Diktum: „Wer nicht hören kann, muss fühlen“ außer Kraft gesetzt: Wenn Hören Leben ist, dann ist nämlich Leben auch Fühlen. Und was nicht hört und nicht fühlt, das ist mausetot. (An dieser Stelle möchte ich, der guten Ordnung halber und um Missverständnissen vorzubeugen, die mit physisch bedingter Taubheit geschlagenen Mitmenschen, z.B. Ludwig van Beethoven oder Alfred Brendel, ausdrücklich mit einbeziehen in den Kreis aller Hörenden. Auch der Ertaubte vernimmt von der Außenwelt nie wirklich nichts, vielmehr immer etwas. Und selbst der von Geburt an Taube hört in seinem Innern den eignen Herzschlag und das Blut singen und rauschen, wie wir wissen, seit John Cage die Stille verkomponiert hatte in seinem epochemachenden Werk „4:33“.) Und um noch einen weiteren Zeugen gilt es zu benennen: Luigi Nono. Nono hatte, alarmiert von der „tragedia dell ascolto“, der „Tragödie des Hörens“ im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit, die Wiedergewinnung des Zuhörens zur kompositorischen Chefsache erklärt. Denn das Hören kann neue Perspektiven öffnen. Zuhören, das „genaue“ Zuhören, kann Bewusstsein verändern, und damit, so Nono, verändert sich die Erkenntnis der Welt. 

In dieser Tradition stellte sich der Intendant, Kurator und Musikpolitiker Peter Androsch vor sieben Jahren. Was ist aber heute noch zu hören in der schönen Stadt Linz von dieser großen, grundsätzlichen Hör-Lektion des Peter Androsch? Gibt es noch das Museum des Hörens? Das „Akustikon“? Gibt es noch die Muzak-freien Zonen?  Das alles weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass Androsch seither nicht stehenblieb, vielmehr sich, sinnliche Wahrnehmung vernetzend, Hören mit Sehen verschwisternd, seine künstlerischen Phonographien weiterentwickelte. Überschrieb eigne Partituren palimpsestartig, stellte dann vor einem guten halben Jahr an der Bruckneruniversität in Linz neueste Klang-Schreibungen aus, die auch Handschriften anderer verarbeiten – und nun: in Regensburg.

Ich fasse zusammen: Als ein Kulturpolitiker und als Musikphilosoph, als Konzeptkünstler, Dialektiker, Über-den-Tellerrand-Gucker, als ein Hansdampf-in-allen-Gassen und Till Eulenspiegel, als ein Umstürzler und als Strippenzieher, als einer, der die künstlerische Freiheit des Anderen liebt und verteidigt, wie, nicht minder, die eigene, ist mir Peter Androsch schon mehrfach aufgefallen. Und er hat, als solcher, viel bewirkt. So weit, so gut. In erster Linie aber ist Peter Androsch ein Komponist. Nicht mehr, nicht weniger. 

Zum ersten Mal habe ich Musik von Androsch gehört im Bruckner-Jahr 1996. Das ist jetzt genau zwanzig Jahre her. Es handelte sich um die Uraufführung einer Bruckner-Oper, die erste und einzige bislang, darin Bruckner persönlich auftritt.  Ich erinnere mich an einige Details ganz gut. Das Stück begann mit Hall- und Sphärenklängen, lauter pianissimo-feinsten Flageolettgespinsten, sich ausbreitend  über ein Pianissimo-Ewigkeitsdröhnen, und darein knallten dann mit Baritonpathos gesprochene Worte, mit einem „englischen“ Akzent, denn es handelte sich wirklich um einen „Engel“, der da sprach, und er sagte: „Mein Gott, was für ein Schwein.“ Da war Anton Bruckner gerade im Himmel angekommen. Es handelte sich eigentlich mehr um ein Melodram, als um eine Oper im engeren Sinne. Will sagen, es gab eine Art Soundtrack, ein aus stilistisch verschiedensten Fragmenten und Zitaten zusammengesetztes Ganzes, ein differenzierter, elaborierter Flickenteppich, gefärbt  mit diversen Instrumentenfarben, vor allem lange Posaunen-Liegeton-Flächen sind mir in Erinnerung, Schlagzeug, Klavier, Elektronik und so weiter, dazu gesprochene Worte, sowie kirchenglockenartig in Quarten und Quinten geführte Kinderchöre. Nicht Bruckners Leben wurde so erzählt. Androsch und sein Librettist durchleuchteten vielmehr ausschließlich das Liebes-Leben Bruckners: das nachweislich nicht vorhandene. Und das ist insofern wichtig und zielt ins Zentrum von Bruckners Kunst, als dank Freud der Kontext von elementarem Triebverzicht und dessen Sublimierung im Künstlerischen, Kreativen gewissermaßen eine Milchmädchen-Rechnung geworden ist. Diese Oper heißt: „Geschnitzte Heiligkeit oder Anton Bruckner und die Frauen.“ Es handelt sich um eine Hommage, eine Ehrung, die ein Komponist einem anderen angedeihen ließ, aber auch um eine Persiflage, eine Collage, ein Potpourri, ein Machwerk. Es war das Beste, weil Wahrhaftigste und Eigenständigste, das ich im Brucknerjahr kennenlernte damals, Schande über Österreich, dass das Stück seither nie wieder aufgeführt worden ist. 

Seither habe ich allezeit versucht, auf dem Laufenden zu bleiben, was der Androsch so alles komponiert. Nicht alles habe ich gehört. Manches nur auf Platte, wie die Kleinkunst-Kleinodien der Schlager und Songs, die er gemeinsam mit Didi Bruckmayr und anderen produzierte. Manches live, hier und da. Zuletzt habe ich vor drei Jahren im Wiener Parlamentssaal die Oper „Spiegelgrund“ erlebt, eine Kammeroper, die von den behinderten Kinder berichtet, die in der Kinderfachabteilung des Spitals am Steinhof in Wien getötet worden sind. Man hat sie vergiftet oder verhungern lassen, als lebensunwertes Leben. Man kann so etwas Grauenhaftes, unvorstellbar Unmenschliches, grundsätzlich nicht veropern. Also, was hat Androsch gemacht? Er hat die musikalischen Mittel enorm reduziert und den dokumentarischen Texten, die wiederum fragmentiert sind, streng untergeordnet. Prima le parole. Poi la musica. Sehr einfach, sehr simpel, drei Sänger, ein Sprecher, acht Musiker, eine Bandeinspielung.  (Ich lese vor aus meiner damaligen Rezension): „Terzen, Quarten, viel Unisono, immer wieder reduziert sich der Ambitus auf einen rezitativischen Sprechgesang. Lakonisch ausgedünnt auch die wenigen verkomponierten Textzeilen: Plutarch berichtet über die Tötung Neugeborener in Sparta, Briefe von Zeitzeugen, dann das Kinderlied „Kommt ein Vogel geflogen“, dessen letzte Zeile: „Denn ich kann dich nicht begleiten, weil ich hier bleiben muss“ einen fürchterlichen neuen Sinn bekommt. Das Lied steht in Dur, aber Androsch zieht ihm ein Moll-Hemdchen über, und plötzlich denkt man an Schuberts „Leiermann“ oder an Purcells „Dido“ oder andere große Todesmusiken. Und man hält die Luft an, wenn die Sopranistin Katerina Beranova aufsteht und Belkantovariationen anstimmt, die diese kindliche Einsamkeitsode ausweiten zu einer großen, weltumspannenden Weheklag.“ 

Ja, so ist das mit Peter Androsch. Er kann als Künstler große Worte musikalisch gelassen aussprechen. Einer, der es ernst meint und in der Lage ist, diese Ernsthaftigkeit mit Witz durchzuziehen. Das ist ein hohes Talent! Außerdem ist er einer, der in allen seinen Werken direkt oder indirekt die Seite der Verlierer reflektiert, der Verlorenen, der Außenseiter der Gesellschaft, der Ausgrenzten, der Grenzgänger. L‘Art pour l’Art ist Androschs Sache nicht. Schön sein, wahr sein, gut sein – das genügt noch nicht ganz. Denn für jede Note, die Androsch schreibt, gibt es einen konkreten Grund, der etwas zu tun hat mit Menschlichkeit, Aufklärung und der Erweiterung der Erkenntnis der Welt. Damit komme ich zum Ende dieses Vortrags.  Ich will kurz noch mal zu sprechen kommen auf das, was ich eingangs sagte, als es um die Politisierung des Hörens ging und um den kulturpolitischen Strippenzieher  Androsch. Der ist, wie ich hoffentlich habe andeuten können, mit dem Komponisten Androsch, also mit sich selbst, identisch. Und das hört man auch.

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